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Berlin/Wien (15. März 2006) »Diese Auszeichnung spiegelt die Realität einer Entertainment-Industrie, deren Strategien der totalen Ablenkung ohne tieferen Sinn längst alle Bereiche der Gesellschaft ergriffen hat. Mehr als eine Nebenrolle spielt gesellschaftspolitisches Engagement dabei auch in einem Filmjahr nicht, indem es sonst keine großen Themen gab. So verhallte jede noch so deutlich formulierte Kritik an aktuellen Mißständen im Gekreische von PR-Kampagnen und im Lärm von schicken Klingeltönen. Nichts bleibt, was auch in der Nüchternheit nach dem Rauschen der Galanacht für die Massen der Angepaßten erhellend sein könnte.«
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Die Nacht der langen Messer
Die Souveränität des immer wieder gerne ausgezeichneten Xavier Naidoo schrammt schon übel an einer gefährlichen Selbstgefälligkeit dahin. Der sonst so engagierte Gesellschaftsbeobachter gönnte dem ECHO keine kritische Eintragung ins Mitteilungsheft. Da teilte er lieber an die zahllosen Helfer aus – in Hochgeschwindigkeit las er Dankespersönlichkeiten vom Zettel, sodaß diese sich maximal auf den Arm genommen vorkommen konnten. Das Publikum kam sowieso nicht mit – rasende Performance ins Out. Der Tourneehinweis klang ein wenig als Entschuldigung für die hingehudelte Lässigkeit.
»Wollen uns bei den zuständigen Organen bedanken!«
Rammstein langweilen mittlerweile mit ihren Null-Wortspenden: »Wollen uns bei den zuständigen Organen bedanken!« – und aus. Auch die Helden schafften ihr übliches Diskursniveau nicht und waren froh, mit dem zweiten Album gut über die Runden gekommen zu sein. Fettes Brot klopften sich immerhin gleich selbst auf die Schulter: »Wir danken der Academy für das Erkennen von Talent!« Und dankbar ging es weiter – live [Semino Rossi, Kastelruther Spatzen etc.] und in den Zuspielungen [James Blunt, Michael Bublé, Robbie Williams] verneigte man sich artig.
Mitleid, Kinderarbeit und Schlimmeres
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Mitleid, Kinderarbeit und Schlimmeres kommt einem in den Sinn. Gefeit davor offensichtlich nur Menschen mit einer Eins zu Beginn der eigenen zweistelligen Alterszahl. Einer wurde eingeflogen, von Campino niveauvoll vorgestellt und mit einem extra geschaffenen Spezialpreis behängt: Bob Geldof, er war für das Politische und Gesellschaftskritische zuständig – und er war beeindruckend. Mahnung an die Deutschen hinsichtlich der Deine Stimme gegen Armut-Kampagne: »Macht weiter, bringt die Sache voran!«
Genau das möchte man auch dem ECHO in einem durchaus positiven, konstruktiven und fordernden Ton zurufen! Bei einem Musikpreis dieser Größe und Bedeutung müßte es darum gehen, eine Identität des Preises und der Preisverleihung an sich zu schaffen. Ziel sollte sein, ein Forum zu etablieren, in dem in einem abgesteckten und auch medial gut wahrgenommenen Rahmen Kreativität mit all ihrer Unberechenbarkeit und Widerständigkeit, d.h. eigen(ständig)en Weltdeutung, ermöglicht wird.
Warum nur, warum?
Warum müssen die live auftretenden Künstler stets ihre mehr oder weniger bekannten aktuellen Singles abspulen? Warum werden Künstler nicht dazu eingeladen, einen eigenen Song für den ECHO zu schreiben, Branchen- oder Gesellschaftsaktuelles zu reflektieren? Wie hören sich denn klingende Statements der führenden Musikschaffenden zu Downloadproblematik, Medienmisere und A&R-Krise an? Wieso ist geistiges Eigentum kein Thema - als künstlerisches Statement? Das Publikum glaubt den Künstlern, und nicht der Industrie: laßt sie also sprechen, singen und sensibilisieren.
Wenn sich Qualität und Überraschung paarten, wären Musikpreisverleihungen weniger ausrechenbar und damit interessanter für das Publikum, und selbstverständlich auch für die Musikschaffenden. Eine solche wünschenswerte Identität kann der ECHO bisher nicht aufweisen – aus mehreren Gründen: Die Moderatoren sind passables Mittelmaß, nicht mehr. Oliver Geißen ist sympathisch, grinst mit seiner Partnerin um die Wette und beginnt flapsig mit der Hand im Hosensack. Leider ist er den ganzen langen Abend bemüht, sein Everybody’s-Darling-Image nicht anzupatzen. Damit entstehtweder etwas wirklich Lustiges, noch Tiefsinniges, Originelles oder sonst irgendwie Wesentliches. Michelle Hunziger gibt den momentan überall – nicht nur beim ECHO – anzutreffenden Prototyp der Moderatorin, die so unglaublich aufgeregt und gut drauf ist, daß es einfach nervt, und man auf die rausgebrüllten Künstlernamen nur zurückschreien will: Gnade!
Vom Ausland links liegen gelassen
Die internationalen Gewinner geben dem ECHO nicht die Ehre ihrer Anwesenheit, was bleibt, sind unbefriedigende Infokurzmeldungen zu den jeweiligen Kategorien. Daß das nicht so leicht zu ändern ist, leuchtet ein. Daß man sich da schnellstens etwas überlegen muß, ist genauso evident.
Kontinuität bei Signationsound und Produktionsfirma, in Bühnenbau und Ausstattung schaffen noch keine Identität des ECHO, dazu braucht es mehr. Daran muß gearbeitet werden. Abseits von Marketing und Verkaufszahlen werden keine Werte etabliert. Damit amputiert die Branche auch ihre Künstler, anstatt sie zu fördern.
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Fotos: Echo
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